So stand sie nun allein und alt

von
Heinrich Ottensmeier

 

Der Schicksalsweg einer Bauersfrau vor 200 Jahren

Da erscheint am 12. September 1789 auf dem Amt Hausberge die Besitzerin der Stätte Bischofshagen Nr. 26 Anna Ilsabein Ottensmeyer  und erklärt, „daß sie der Stätte Alters und Schwachheits halber nicht mehr vorstehend vermögen sei“. Gewiß wird es in jener Zeit auch andere Bauersfrauen gegeben haben, die mit 63 Jahren die Bewirtschaftung eines Hofes aus Krankheitsgründen nicht mehr bewerkstelligen konnten, aber vielleicht dürfen wir hier einmal den Schicksalsweg einer Bauersfrau gleichsam für viele andere Schicksalsgenossinnen ihrer Zeit nachzeichnen.

Trin Ilsabein, so wurde sie ins Taufregister der Kirchengemeinde Gohfeld eingetragen, wurde als Tochter der Eheleute Johann Bernd Nagel und Anna Catharine Diekmeyers geboren. Schon mit 16 ½  Jahren verheiratete sie sich mit dem Anerben Berend Henrich Stickdorn oder Ottensmeyer und nahm die Bürde einer Bäuerin auf sich. Sie hat ihrem Mann acht Kinder geboren, von denen drei im schulpflichtigen Alter starben. Die übrigen fünf wurden zeitig angehalten, den Eltern in der Bewirtschaftung der Stätte zur Seite zu stehen.

Aber man kann die Kinder nicht nur zur Mitarbeit im eigenen Betrieb ausnutzen, sonder man muß ihnen auch bei der Begründung einer eigenen Existenz behilflich sen. Dies geschah durchweg dadurch, daß man seine Kinder günstig verheiratete. Nach Möglichkeit versuchte man also, passende Einheiratungsmöglichkeiten zu finden, andernfalls mußte man es mit einem Heuerlingsdasein vorliebnehmen oder eben als unverheirateter „Vetter“ oder unverheiratete „Weske“ dem Hoferben und seiner Familie im Wege sitzen.

Für den ältesten Sohn, er war zwar eben erst 19 Jahre alt, bot sich im Jahre 1767 eine günstige Gelegenheit. Der „königlich eigenbehörige Untertan Frantz Jürgen Held, Jöllenbeck Nr.13“, sah sich nicht mehr im Stande, seiner Stätte bis zur Großjährigkeit seiner jetzt fünfzehn jährigen Stieftochter vorzustehen, „zumal er aus Noth ein neues Wohnhaus zu bauen im Begriff wäre.“  Er bittet das Amt Hausberge, seiner ältesten Stieftochter Anne Sophie Luise Held, die sich mit dem Johann Henrich Stickdorn aus Bischofshagen ehelich verlobt habe, die Stätte zu übertragen. Die Eltern Stickdorn haben sich gern bereit erklärt, die Heirat ihres Sohnes tatkräftig zu unterstützen, so zu unterstützen, daß es an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit geht. Neben einem vollen Brautwagen erhält Johann Henrich noch zwei Kühe, ein Rind, ein Pferd, drei Schweine und zwei Sack Korn. Darüber hinaus aber gibt das Ehepaar Stickdorn seinem Sohn noch eine Starthilfe in „klingender Münze“ in Höhe von 100 Talern. Das ist zwar verhältnismäßig hoch für die Stickdornsche Stätte, aber was tut man nicht alles für Sicherung der Zukunft seines Kindes! Und dann ist man ja noch rüstig und stark, und die anderen Kinder wachsen schnell zur Mitarbeit heran. Als Beweis für die tatkräftige und mustergültige Bewirtschaftung der Stätte mag die Tatsache dienen, daß man in den nächsten Jahren auch noch ein neues Wohn- und Wirtschaftsgebäude errichtet.

Als jedoch im Jahre 1774, also sieben Jahre nach ihrem Bruder, die Tochter Anna Cathrine Ilsabein heiratet, sehen die Verhältnisse ganz anders aus. Ihr Brautschatz fällt bei weitem nicht so üppig aus wie bei ihrem Bruder. Das hat verschiedene Gründe. Der Bräutigam ist der Heuerling und Schneider Johann Wilhelm Wehmeyer. Er hat keinen „königlich eigenbehörigen“ Besitz, dem eine volle Aussteuer zugute kommen würde. Auch scheidet die Anna Catharine Ilsabein mit der Heirat eines Heuerlings aus dem Hörigkeitsverhältnis aus, und die Eltern müssen deswegen für ihre Tochter einen Freibrief lösen und dafür 38 Taler entrichten. Da verstehen wir, daß unter den vorausgegangenen und gegenwärtigen Belastungen des Hofes die Braut einen Brautschatz in barem Gelde in Höhe von lediglich 20 Talern erhält, von denen bei der Hochzeit nur 2 ½ Taler fällig werden, der Rest in gleicher Höhe in jährlichen Raten gezahlt wird. Mit einer Kuh und einem Ehrenkleid fällt auch die übrige Aussteuer mehr als kläglich aus.

Das sind nun alles Lasten, die wohl drücken, doch von den Eheleuten gemeinsam getragen werden können. – Aber das nächste Jahr (1775) bringt einen harten Schlag, der schier unverwindbar ist. Berend Henrich Stickdorn stirbt im Alter von 57 Jahren an Brustleiden (Schwindsucht?). Nun steht die Frau, kaum das fünfzigste Lebensjahr vollendet, allein! – Sie steht zwar nicht völlig allein, denn da sind noch ihre drei Kinder, die neunzehnjährige Agneta Engel, die elfjährige Anna Catrine Ilsabein und der Hoferbe Johann Henrich, der noch nicht einmal vierzehn Jahre alt ist. Auf die beiden noch schulpflichtigen Kinder kann sie sich nicht verlassen, und die Agneta Engel tut, was sie kann, aber einen Mann kann sie nicht ersetzen. Mit Hilfe der Nachbarn und Verwandten schafft man die Erntearbeiten und kommt so auch durch den Winter, aber die fehlenden Männerarme machen sich überall bemerkbar.

Nach Ablauf des Trauerjahres entschließt sich Witwe Stickdorn, wieder zu heiraten. Der in Aussicht genommene zweite Mann Johann Henrich Lübke aus Schwarzenmoor ist Witwer mit drei Kindern, deren Betreuung und Erziehung vermutlich zur zusätzlichen Belastung der zweiten Mutter wurden. Das Anerbenrecht auf die der Neustädter Kirche in Herford eigene Besitzung ist dem Sohne gesichert. Wenn Johann Henrich Lübke dazu noch um vierzehn Jahre jünger ist als die Witwe Stickdorn, so kann auch das kein Hinderungsgrund für die Ehe sein, denn hier ist die Arbeitskraft des Sechsunddreißigjährigen das, was dem Hofe fehlt. Darüber hinaus bringt diese Heirat der Stätte auch noch erhebliche wirtschaftliche Hilfe. Lübke erhält gleichsam eine doppelte Aussteuer. Von seiner elterlichen Besitzung, er scheint auf das Anerbenrecht zugunsten seines Sohnes verzichtet zu haben, erhält er neben einer Kuh und einem Rind 50 Taler in bar. Aus eigenen Mitteln steuert er noch eine Kuh, ein Rind, einen halben Brautwagen und 50 Taler „Courant“ bei.

Nun scheint auf dem Ottenshof auf dem Stickdorn wieder alles in bester Ordnung zu sein. Im Jahre 1779 kann der „neue Stickdorn“ seine Stieftochter Agnese Engel mit Jost Arend Nolting von Jöllenbeck Nr. 18 „standesgemäß“ verheiraten. Sie erhält in etwa die gleiche Aussteuer, die ihr Stiefvater vor drei Jahren eingebracht hat. In barem Geld gibt es allerdings nur 60 Taler, dafür aber ein Pferd oder 20 Taler, zwei Kühe („eine als bloßes Geschenk“), ein Rind, zwei Sack Korn und einen vollen Brautwagen. Neben dem „Ehrenkleid“ hat der Brautvater auch noch den Weinkauf für den Mitbesitz der Noltingschen Stätte zu entrichten. – „Da der Sponsus (Ehemann) einen Sohn, 8 Jahre alt, hat, so werden der Braut 24 Meyerjahre, wenn der Anerbe nicht stirbt verschrieben.“

Nun scheinen weitere ruhige und glückliche Jahre auf dem Stickdorn und seine Bewohner angebrochen zu sein. – Oder war das Familienglück doch nicht so ungetrübt? – Gab es hier ein Generationsproblem? – Gab es Spannungen zwischen dem Anerben und seinen die Wirtschaft führenden Stiefvater? – Oder war einfach die Jagt nach dem Gelde, aus Not oder aus Abenteuerlust, die viele Bauern- und Heuerlingssöhne in die holländische Häfen lockte? Wir wissen es nicht im Einzelfall! Jedenfalls war hier auf dem Stickdorn der im Jahre 1761 geborene Hoferbe, als sein Hof ihn rief, nicht erreichbar. Gerade bei Beginn der Erntearbeiten des Jahres 1788 starb Johann Henrich Stickdorn, geborener Lübke, nach zwölfjähriger Ehe im Alter von 48 Jahren.

Dieser Schlag traf die Frau, die nun zum zweiten Mal Witwe wurde, so hart, daß sie sich nie wieder ganz erholen konnte. Und vielleicht war aus der „Vernunftehe“ eine wirkliche „Liebesehe“ geworden. Es könnte als Zeichen ihres gebrochenen Glücks, als Zeichen der Dankbarkeit gewertet werden, daß sie ihrem zweiten Mann einen Grabstein errichtete, der noch heute auf dem Gohfelder Kirchhof zu finden ist, während kein solches Zeichen für irgendein Glied der alteingesessenen Familie Stickdorn-Ottensmeyer aus jener Zeit vorhanden ist.

Und dann noch die Sorge um den verschollenen Hoferben! Wer geht bei solchen Schicksalsschlägen nicht zu Boden?! – Und wer könnte nicht begreifen und verstehen, daß diese Frau nun heute, am 12. September 1789, vor dem Amt Hausberge erklärt, daß sie sich nicht mehr in der Lage fühle, ihrer Stätte vorzustehen! – Gewiß ist ihr der Entschluß nicht leicht geworden. Tatsächlich wartet sie auf die Heimkehr des Erben! Aber seit fünf Jahren hat sie kein Lebenszeichen von ihm erhalten! Aber nun ist kein Aufschub mehr möglich! Kein Mann auf dem Hofe! So mit ihrer jüngsten Tochter ganz allein! Das geht nicht so weiter! Und wer weiß ob der Erbe noch zurückkehren will! Wer weiß denn, ob er überhaupt noch lebt?! Wie viele Hollandgänger sind für immer verschollen geblieben! – Ja, das hat schlaflose Nächte und viele Tränen gekostet!

Aber nun gibt es keinen anderen Ausweg, als der jüngsten Tochter, die ihr stets treu zur Seite gestanden hat, den Hof übertragen zu lassen. Das Amt wird des Hofes wegen schon Verständnis für ihre Lage aufbringen! Und die notwendigen Voraussetzungen sind gegeben! Johann Friedrich Grefe von Solterwisch Nr. 22 ist mit der Anna Catrine Ilsabein einig geworden, will mit ihr die Ehe eingehen und die Bewirtschaftung des Hofes auf dem Stickdorn mit ihr gemeinsam übernehmen.

Es hat zunächst gewisse Schwierigkeiten gegeben, da Johann Friedrich Grefe als „Mousquetier unter dem Hochlbl. Regiment von Rhomberg“ steht und als Soldat erst die Genehmigung zur Heirat von der Kriegs- und Domänenkammer einholen muß. „Von Gottes Gnaden Friedrich Wilhelm König von Preußen“ verfügt dann durch die Kammer, daß der „Mousquetier Grefe“ schon während seines Soldatenstandes die Verwaltung des Stickdornschen Hofes übernimmt, da die Verhältnisse auf dem Colonat keinen Aufschub leiden. Daher ist die Heiratserlaubnis unverzüglich zu erteilen.

Mutter Stickdorn kann nun am 12. September 1789 „amtlich“ erklären, daß sie die Stätte ihrer Tochter und ihrem künftigen Schwiegersohn übergeben wolle, und der ebenfalls anwesende Vater des Bräutigams Conrad Grefe bekundet, daß er mit einem guten Brautschatz für den Sohn die Stätte verbessern werde.

Johann Friedrich erhält als Mitgift 150 Taler in bar, einen vollen Brautwagen, ein Pferd oder 20 Taler, eine Kuh, ein Rind, zwei Schweine, zwei Sack Korn und ein Ehrenkleid. Zu dieser beim Amt Vlotho getätigten Verschreibung will der Vater aus eigenen Mittel noch 50 Taler hinzulegen, da er bei „Anfang der Heyrath“ den Eltern der Braut 200 Taler versprochen habe.

Mit diesem Brautschatz gibt sich auch die Brautmutter zufrieden und erklärt dann, „daß sie 150 Taler schon empfange und in Händen habe und solche auf den Fall, daß ihr abwesender Sohn Johann Henrich etwa noch wiederkommen sollte, für denselben aufbewahren wolle, welches dann auch, da die Witwe Ottensmeier als eine gute Wirtschafterin bekannt und den jungen Leuten keine Schulden nachläßt“ , bewilligt wird. – Diese 150 Taler darf sie allerdings nur so lange in Verwahrung halten, solange sie bei den jungen Leuten im Hause bleibt. Wenn sie also die ihr verschriebene Leibzucht beziehen sollte, muß sie das Geld abgeben. – So kann dann am 27. September 1789 die kirchliche Trauung in Gohfeld erfolgen. – Damit ist die Zukunft des Hofes weiterhin gesichert.

Mutter Stickdorn-Ottensmeyer hat gut daran getan, daß sie „beizeit ihr Haus bestellt“. Am 7. März 1791, also kaum 1½ Jahre nach der Hofübertragung, erliegt sie einem Schlagfluß, ohne ihren verschollenen Sohn Johann Henrich wiedersehen zu können. Doch mit ihrem Ableben ist ihre Mütterliche Fürsorge noch nicht erloschen.

Was wohl kaum jemand außer der bis zuletzt hoffenden Mutter zu glauben gewagt hatte, trifft dann doch noch ein. Der „verlorene Sohn“, der gewesene Anerbe der königl. eigenbehörigen Stätte Nr. 26 der Bauerschaft Bischofshagen, „ohnlängst aus Ostindien zurückgekommen“, meldet sich, nachdem er seit acht Jahren abwesend gewesen, am 4. August 1792 beim Amt Hausberge, damit ihm sein kindlicher Teil von der Stätte bestimmt und verschrieben werden möchte. Zu diesem Termin ist auch sein Schwager, der jetzige Colonus Ottensmeyer, geb. Grefe, erschienen, und der Heimkehrer hat sich zwei seiner Geschwister, den Colonus Johannsmeyer oder Held und Colona Agnese Engel Nolting, als Zeugen mitgebracht. Es wird festgelegt, daß Johann Henrich für den Abstand von der Stätte und von dem Brautschatz von der Ottensmeyerschen Stätte folgende Abfindung erhält:

An barem Geld 2oo Taler, einen „völligen“ Brautwagen, für ein Pferd 20 Taler, eine Kuh, ein Rind, zwei Schweine, ein Ehrenkleid und den Weinkauf für die Stätte, auf welche Johann Henrich Ottensmeyer sich zu verheiraten Gelegenheit hat. Dazu erhält er zwölf Stücke von dem von seiner verstorbenen Mutter nachgelassenen Linnen, „wogegen aber keine Hemden auf den Brautwagen und kein neuer Bettbezug, sondern der von der Mutter nachgelassene Bezug geliefert wird“.

So kann nun der Heimkehrer am 18. November 1792 die Ehe mit der Witwe Agnes Elisabeth, geb. Ufflerbäumer, schließen und zu ihr auf die Stätte Bischofshagen Nr. 27 ziehen. Er hat nun eine Frau mit fünf Kindern, von denen das jüngste zwölf Jahre alt ist, und einen Hof, der seinem ursprünglich vorgesehenen Erbe in etwa gleichwertig ist.

Diese Lösung war immerhin der großen Mühe und der Fürsorge einer liebenden Mutter mitzuverdanken.

           Heinrich Ottensmeier
aus „Beiträge zur Heimatkunde der Städte Löhne und Bad Oeynhausen“  Heft 10 1983