Heimat- und Weltgeschichte im Spiegel einer kleinen Ackerstätte
 

von
Heinrich Ottensmeier

 

 Der Ahnherr half beim Bau der Köln-Mindener Eisenbahn

Ein Scheffel Roggen kostete 9 Taler

Unmittelbar an der Löhner Gemeindegrenze, an dem zum Löhner Geißbrinke führenden Windmühlenweg, liegt die kleine landwirtschaftliche Stätte Windel, Bischofshagen, Nr. 102. Wenn wir uns hier heute mit der Geschichte dieser Besitzung und mit den Geschicken ihrer Bewohner beschäftigen, so können wir in den vergilbten Blättern nicht etwa zurückblättern bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder noch darüber hinaus, aber das , was Kinder und Enkelkinder  aus der Vergangenheit dieser „Kuhstelle“, im heutigen Sprachgebrauch also eine Nebenerwerbsstelle, zu berichten wissen, ist gewiß nicht minder interessant. Der Besitzer  dieser Stätte, Gottlieb Windel, ist Tischler und bewirtschaftet seinen Besitz wie seine Vorfahren als Nebenerwerb. Die Notizen und Erzählungen dieses familien- und heimatgeschichtsfreudigen Mannes vermitteln uns überaus interessante Einblicke in das kulturhistorische Geschehen unserer Heimat.

Bei einem Besuch des Gehöftes bleibt unser Blick zunächst an den beiden gewaltigen Bäumen, einer Linde und einer Kastanie, die das helle Fachwerkhaus seit einem Jahrhundert überschatten, hängen. Aber dann gleitet der Blick weiter zu dem geschnitzten und ausgemalten Türbogen, der uns dann auch gleich an die Urquelle der Hofgeschichte führt: „Im Jahre 1837, dem 10. Julius, Hat Carl Heinrich Budde und Wilhelmine, geb. Heper Aus Löhne, dieses Haus bauen lassen. – Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine gn.“

Hier an der Gemeindegrenze, auf dem Grunde der allgemeinen Mark oder Hude, der Löhner Heide, errichteten die jungen Eheleute Budde ihr Wohn und Wirtschaftgebäude, das dann erst durch den Ankauf von sechs Morgen Land seine eigentliche Bedeutung erhielt. Doch boten auch diese 1,5 ha Ackerland keineswegs eine sichere Existenz, zumal die Familie schnell wuchs und bald sechs Kindermäulchen versorgt werden mußten. Heinrich Budde, der das Schmiedehandwerk erlernt hatte, baute nun eine Schmiede an sein Haus an. Aber auch nun schaffte es der treusorgende Vater nicht, die Schuldenlast abzutragen. Eine heimtückische Krankheit ließ die Sorgen um Familie und Hof noch größer werden. Um aber die Besitzung seiner Familie zu erhalten, vererbte er sie nicht an einen seiner drei Söhne, sondern an seine älteste Tochter, die sich mit Wilhelm Windel verheiratete. Von den Söhnen Carl Heinrich Buddes ging einer nach Amerika, um nicht Soldat werden zu müssen. Sein Bruder erlernte das Müllerhandwerk in der Mühle Oberbehme. Der dritte Sohn begründete später die jetzige Besitzung Schnatsmeier, Bischofshagen Nr. 165, und versuchte es, da er das Handwerk des Vaters erlernt hatte, nun hier mit einer Schmiede.

Besonders interessant und wechselvoll erscheint das Leben des bereits erwähnten Wilhelm Windel. Er war am 25. März 1823 als Sohn des Mühlenbesitzers Windel in Heepen geboren. Da sich sein Vater gewagten Geschäften hingab, wurde ihm die Mühle verkauft, und Wilhelm Windel kam schon im Alter von neun Jahren nach Bischofshagen zum „Alten Krug“, wo er als Kuhhüter eine nicht gerade leichte Jugend verlebte.

Der überaus strebsame junge Mann fand dann willkommende und lohnende Arbeit, als die Köln-Mindener Eisenbahn im heimischen Bezirk gebaut wurde. Besonders lang und anstrengend war das Tagwerk, als Wilhelm Windel jeden Tag von Bischofshagen zu Fuß nach Rehme ging, wo die Eisenbahn über die Weser geführt wurde. Hier beim Brückenbau mußte er, wie allgemein üblich, 12 Stunden arbeiten, so daß ihm für die Nachtruhe daheim nur noch fünf bis sechs Stunden verblieben. Oft aß er, so erzählte er später, zum Frühstück zu seinem Butterbrot  vier Eier, um das Mittagessen zu sparen und die zweistündige Mittagspause zum Schlafen nützen zu können. Der Tagesverdienst betrug zwei Mark. Vier Eier kosteten insgesamt einen Groschen.

Aber die mühevolle Arbeit hatte sich auch noch in anderer Richtung gelohnt. Als die neuerbaute Eisenbahn im Jahre 1847 in Betrieb genommen wurde, fand Wilhelm Windel auf dem Bahnhof Löhne eine Anstellung als Weichensteller.

Gerade das Jahr 1847 hatte sich aber auch noch aus einem anderen Grund tief in das Gedächtnis Wilhelm Windels eingeprägt. Es war das furchtbare Hungerjahr. Ein Scheffel Roggen, etwa 65 Pfund, stieg bis zu einem Preis von 9 Talern (!) an. Die Not war auch in Bischofshagen groß. Von den sogenannten kleinen Leuten wurden unter anderem auch Klee und Brennesseln gekocht. Nur einer der größeren Bauernhöfe, Stühmeier  Nr. 5, war in der Lage Brotgetreide abzugeben. Kartoffeln wurden zu der Zeit nur vereinzelnd angebaut.

Etwa vierzehn Tage vor der neuen Ernte, kam der erste Roggen aus Rußland an. Obwohl Rußland über einen großen Überschuß an Brotgetreide verfügte, konnte es wegen der Transportschwierigkeiten – es mußte alles mit Pferd und Wagen transportiert werden – nicht früher herangeschafft werden. Nach dem Eintreffen des russischen Getreides gab es sofort einen Preissturz. – Aus dem Notjahr zog Wilhelm Windel eine besondere Lehre. Grundsätzlich mußte eine Getreidereserve für Menschen und Vieh bis Weihnachten des nächsten Jahres gehortet werden, eine Maßnahme, die auch von den Kindern und Enkeln übernommen wurde. Die Ernte des Jahres 1848 war dann weit besser als der Vorjahre. Die Roggenähre hatte sechs Reihen und der Scheffel kostete nur noch einen Taler.

Im Revolutionsjahr 1848 trat Wilhelm Windel, wie alle anderen Einwohner, selbst der Amtmann, in den Steuerstreik. Allerdings mußten die Steuern später nachgezahlt werden.

Aus der Ehe Wilhelm Windel mit Luise Budde gingen fünf Kinder hervor, von denen die jüngste Tochter im Jahre 1881  während einer Scharlachepedemie im Alter von 22 Jahren verstarb. Der älteste Sohn heiratete in das Bad Steinsiek ein, während die zweite in Löhne-Bhf. an der jetzigen Königstraße einen Neubau errichten konnte. Aber Wilhelm Windel konnte die abzubringenden Kinder nicht nur gut aussteuern, sondern er vermochte auch dem Hoferben einen vergrößerten Besitz zu übergeben. Er konnte zunächst bei der Teilung der Gohfelder Marken noch vier Morgen Land erwerben und im Jahre 1852 noch 1½ Morgen (3750 qm) hinzukaufen. Diese 1½ Morgen Ackerland kosteten 50 Taler.

Wilhelm Windel hatte auch als Wünschelrutengänger einen Namen. U. a. wurde der erste Brunnen auf dem Homberge nach seinen Anweisungen angelegt. Der geachtete und beliebte Mann starb am 17. Dezember 1911.

Das väterliche Erbe trat dann der am 3. Januar 1869 geborene Sohn Gottlieb an. Er erlernte kein Handwerk, da er schon früh anstelle des an der Eisenbahn beschäftigten Vaters mit der Mutter die Landwirtschaft versorgen mußte. Er heiratete 1894 Luise Loheide, genannt Sewing, aus Quernheim. Wenn sich die Ehefrau auch als Schneiderin zusätzlich in die Versorgung der Familie mit einschaltete, so mußte sich Gottlieb doch nach einer zusätzlichen Beschäftigung umsehen. 25 Jahre hindurch war er auf der „Knochenmühle“, der Kunstdüngerfabrik Stodiek in Löhne, tätig. Während seiner „Regierungzeit“ wurde zweimal, im Jahre 1896 und im Jahre 1912, die gesamte Ernte durch Hagelschlag vernichtet. Er verlängerte im Jahre 1896 das Haus und zog es mit der 1837 angebauten Schmiede gleich; im Jahre 1926 wurde ein neuer Wohnteil als „Kammerfach“ vorgebaut.

Seit dem Jahre 1938 verwaltet der jüngste Sohn des Vorgenannten, Gottlieb, mit seiner Frau Anna, geb. Kämper, die Besitzung im Nebenerwerb. Gottlieb Windel ist im Hauptberuf Tischler. Er betrieb seit dem Jahre 1925 im elterlichen Haus eine eigene Tischlerei, die aber im Zuge der Mechanisierung und Rationalisierung aufgegeben wurde.

Möge auch der alte Hausspruch, den der Ahnherr vor mehr als 125 Jahren über die Eingangstür setzen ließ, auch in Zukunft Zierde des Hauses und Richtschnur seiner Bewohner sein.

„Allein Gott in der Höh sei ehr und Dank für seine Gnade!“

Heinrich Ottensmeier
aus „Waldbühne Wittel – Sommerspielplan 1965“